Auch Nervenzellen haben eine Achillesferse

Ein neuer Angriffsmechanismus könnte die Schädigung von Nervenzellen bei Multiple Sklerose erklären

Quelle: MPI Neurobiologie Ein neuer Angriffsmechanismus der Multiplen Sklerose: Rot gefärbt sind die Teile des Myelin-Schutzmantels, die an die Myelin-freien Schnürringe angrenzen. Genau an diesen Aussparungen binden die grün gefärbten Antikörper an Neurofascin. Durch die Bindung werden die Nervenzellen geschädigt. Die Folge: bleibende Behinderungen. Bild: MPI für Neurobiologie
Quelle: MPI Neurobiologie
Ein neuer Angriffsmechanismus der Multiplen Sklerose: Rot gefärbt sind die Teile des Myelin-Schutzmantels, die an die Myelin-freien Schnürringe angrenzen. Genau an diesen Aussparungen binden die grün gefärbten Antikörper an Neurofascin. Durch die Bindung werden die Nervenzellen geschädigt. Die Folge: bleibende Behinderungen. Bild: MPI für Neurobiologie

(mpg-sm-ink/ehj) – Wenn das Immunsystem verrückt spielt und anstatt Viren und Bakterien Zellen des eigenen Körpers angreift, so hat dies meist schlimme Folgen. Im Fall der Multiplen Sklerose ist das Ziel dieser fehlgeleiteten Immunabwehr das zentrale Nervensystem. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie und des Instituts für klinische Neuroimmunologie (LMU) haben mit einem internationalen Team jetzt einen neuen Angriffsmechanismus dieser Krankheit aufgedeckt. Die Ergebnisse könnten zu neuen Therapieansätzen für manche Patienten führen.

Lähmungen, Empfindungsstörungen, Sehstörungen – nicht umsonst wird Multiple Sklerose auch „die Krankheit mit den tausend Gesichtern“ genannt. Allein in Deutschland sind schätzungsweise 100 000 Menschen betroffen – und bei jedem von ihnen kann die Krankheit anders in Erscheinung treten. Ihren Verlauf langfristig vorherzusagen, ist deshalb meist schwierig. Eines haben jedoch alle Patienten gemein: Durch den Angriff des eigenen Immunsystems verlieren Nervenzellen im Gehirn und im Rückenmark ihren Schutzmantel aus Myelin. Die Nervenfasern werden geschädigt und bleibende Behinderungen sind die Folge.

Neue Antikörper im Blut gefunden

Um besser zu verstehen, wie das Immunsystem den Myelin-Schutzmantel angreift, haben die Wissenschaftler zunächst untersucht, welche Myelinbestandteile von Antikörpern erkannt werden. Durch den Einsatz modernster Methoden fanden sie dabei Antikörper gegen das Protein Neurofascin. Das ist ein sehr spannender Fund, denn Neurofascin kommt nicht nur als Bestandteil des Myelin-Schutzmantels vor, sondern ist in einer zweiten Form auch direkt auf der Oberfläche der Nervenfasern zu finden.

Antikörper dringen zu den Nerven durch

Aber ist Neurofascin wirklich zugänglich für Antikörper? Laboruntersuchungen ergaben, dass Antikörper von Multiple Sklerose Patienten beide Neurofascin-Formen erkennen und binden können. Im gesunden Körper versperrt der Myelin-Schutzmantel jedoch den Zugang zu der hier eingebetteten Neurofascin-Form. Ein Angriff an dieser Stelle ist somit erst möglich, nachdem der Schutzmantel schon durch andere Mechanismen geschädigt wurde.

Anders verhält es sich mit der Neurofascin-Form, die direkt auf der Oberfläche der Nervenzelle verankert ist. Diese Form findet sich an den „Ranvier’schen Schürringen“ – Myelin-freie Aussparungen im Schutzmantel, die alle paar Millimeter entlang der Nervenfaser auftreten. Diese Schnürringe sorgen für eine deutlich schnellere und effizientere Impulsübertragung entlang der Nervenfasern. Wie sich jetzt jedoch herausstellt, sind sie aber auch die Achillesferse der Nervenzellen. Denn hier ist Neurofascin nur noch durch die Blut-Hirn-Schranke vor einem Angriff der entsprechenden Antikörper geschützt. Aber auch diese wird in einem der frühen Schritte der Multiplen Sklerose porös und für Antikörper durchlässig. Die Wissenschaftler haben gezeigt, dass die Bindung zwischen Antiköper und dem Schnürring-Neurofascin dann nicht nur die Informationsweiterleitung der Zellen blockiert, sondern auch die Nervenfasern schädigt.

Neuer Therapieansatz

„Die direkte Schädigung der Nervenzellen durch Antikörper ist ein völlig neuer Angriffsmechanismus dieser komplizierten Krankheit“, erklärt Edgar Meinl, einer der Leiter der Studie. „Dies könnte zum Krankheitsbild einiger Patienten beitragen.“ Zurzeit entwickeln die Wissenschaftler daher ein Testverfahren, mit dem sich die Konzentration der Antikörper gegen Neurofascin im Blut ermitteln lässt. Damit soll dann untersucht werden, ob ein Vorkommen der Neurofascin-Antikörper tatsächlich mit einem besonders schweren Verlauf der Krankheit beim Menschen zusammenhängt. Langfristig könnte dann zum Beispiel durch das Entfernen dieser Antikörper aus dem Blut ein neuer Therapieansatz entstehen.
Weitere Informationen:

Dr. Stefanie Merker
Max-Planck-Institut für Neurobiologie, Martinsried
Tel.: +49 89 8578-3514
Fax: +49 89 89950-022
E-Mail: Merker@neuro.mpg.de


Originalveröffentlichung:

Emily K. Mathey*, Tobias Derfuss*, Maria K. Emily K. Mathey*, Tobias Derfuss*, Maria K. Storch, Kieran R. Williams, Kimberly Hales, David R. Woolley, Abdulmonem Al-Hayani, Stephen N. Davies, Matthew N. Rasband, Tomas Olsson, Anja Moldenhauer, Sviataslau Velhin, Reinhard Hohlfeld, Edgar Meinl* und Christopher Linington*. *EKM und TD sowie EM und CL trugen zu jeweils gleichen Teilen zur Studie bei.
Neurofascin as a novel target for autoantibody-mediated axonal injury
The Journal of Experimental Medicine, September 2007