Nur keine Hemmungen

Wie hemmende Signalübertragung zwischen Nervenzellen die Entwicklung steuert. Ein digitales System benötigt für die Verarbeitung und Speicherung von Informationen lediglich die Signale für zwei Zustände, „Ein“ und „Aus“.

Quelle: Bild: Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin Abb. 1 Nervenzelle aus dem Rückenmark von VIAAT-Mausmutanten. Die gelben Punkte stellen strukturell intakte Synapsen zwischen Nervenzellen dar, die entgegen der bisher gängigen Lehrmeinung auch in Abwesenheit von GABA- und Glyzinfreisetzung normal gebildet werden.
Quelle: Bild: Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin
Abb. 1 Nervenzelle aus dem Rückenmark von VIAAT-Mausmutanten. Die gelben Punkte stellen strukturell intakte Synapsen zwischen Nervenzellen dar, die entgegen der bisher gängigen Lehrmeinung auch in Abwesenheit von GABA- und Glyzinfreisetzung normal gebildet werden.

(he.vt) –  Die Funktionsweise unseres Gehirns entspricht in vieler Hinsicht zwar nicht der eines Computers, aber es enthält zwei Haupttypen von Nervenzellen, deren Signale ebenfalls „Ein“ oder „Aus“ bedeuten und deshalb von der Empfängerzelle entweder weitergeleitet werden oder deren Signalleitung hemmen. Für die Entwicklung und die Funktion des gesamten Nervensystems ist das Zusammenspiel von solchen stimulierenden und hemmenden Signalen entscheidend. Unterbindet man die Funktion der hemmenden Neuronen, so entstehen bereits früh in der Embryonalentwicklung schwere Entwicklungsdefekte, und zwar auch außerhalb des Nervensystems, wie eine jüngst veröffentlichte Studie aus dem Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen zeigt

GABA und Glyzin sind die im zentralen Nervensystem von Säugetieren am weitesten verbreiteten hemmenden Botenstoffe. Sie werden auch als inhibitorische Neurotransmitter bezeichnet. Nervenzellen, die an ihren Kontakten mit anderen Nervenzellen, den so genannten Synapsen, GABA oder Glyzin freisetzen, hemmen damit in der Regel die Signalweitergabe der Empfängerzelle.

Die meisten inhibitorischen Nervenzellen setzen entweder nur GABA oder nur Glyzin frei. Es gibt allerdings besonders im Rückenmark während der Entwicklung des Nervensystems auch „zweisprachige“ Nervenzellen, die ein Gemisch aus GABA und Glyzin freisetzen. Diese Nervenzell-Mischformen, die sehr wichtig für die normale Entwicklung des Rückenmarks zu sein scheinen, haben die Hirnforscher viele Jahre lang vor ein Rätsel gestellt. In der Regel sind Nervenzellen nämlich auf einen Neurotransmittertyp spezialisiert, den sie mit Hilfe spezieller Transportproteine in kleine membranumschlossene Vesikeln pumpen, dort speichern und dann freisetzen.

Sonja Wojcik und Jeong-Seop Rhee aus der Abteilung Molekulare Neurobiologie am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen haben zusammen mit Kollegen aus Kaiserslautern und Houston (Texas, USA) herausgefunden, wie es bestimmten Nervenzellen gelingt, GABA und Glyzin gemeinsam freizusetzen. Die Forscher entdeckten, dass ein und dasselbe Transporterprotein dazu in der Lage ist, GABA und Glyzin in Vesikeln zu speichern – ein für klassische Neurotransmitter absolut untypischer Fall. Bei genetisch veränderten Mäusen, denen das Gen für dieses als VIAAT bezeichnete Transportprotein fehlt, kommt nämlich sowohl die GABA- als auch die Glyzin-Freisetzung zum Erliegen.

Doch nicht nur das Rätsel um die gleichzeitige Freisetzung von GABA und Glyzin aus den „zweisprachigen“ Nervenzellen des Rückenmarks konnten die Göttinger Wissenschaftler lösen. Sie räumen in ihrer Arbeit auch noch mit einer herkömmlichen Lehrbuchmeinung auf, nach der insbesondere die Freisetzung von GABA aus Nervenzellen eine wichtige Rolle bei deren Wachstum und Reifung spielt. Ohne diese GABA-Freisetzung, so die bisherige Vorstellung, verharren Nervenzellen in einem unreifen Zustand und können keine intakten Synapsen untereinander knüpfen. Wojcik und Rhee widerlegen nun dieses Dogma. Ihre Forschungen an VIAAT-Mausmutanten zeigen, dass sich Nervenzellen auch bei kompletter Blockade der Freisetzung von GABA und Glyzin relativ normal entwickeln und strukturell intakte Synapsen aufbauen.

Funktionsfähig ist das Gehirn ohne GABA- und Glyzin-Freisetzung jedoch nicht. Mäuse ohne VIAAT sind völlig bewegungsunfähig und zeigen außerdem zwei auffällige Entwicklungsdefekte: eine Gaumenspalte und einen Nabelbruch (Omphalocele), bei dem der Darm außerhalb der Bauchhöhle in der Nabelschnur verbleibt. Beide Fehlentwicklungen, die auch beim Menschen häufig auftreten, werden durch die Lähmung der mutanten Mäuse begünstigt. Allerdings scheint zumindest der Nabelbruch in den VIAAT-Mausmutanten direkt durch das Fehlen der GABA- und Glyzin-Freisetzung verursacht zu werden, denn auch andere Mutationen, die die Funktion von GABA und Glyzin stören, führen zu einem Nabelbruch. „Eine gestörte inhibitorische Signalübertragung im Nervensystem kann also eine Ursache für eine fehlerhafte embryonale Darmentwicklung sein“, so Sonja Wojcik. Ob und wie diese Erkenntnisse zur Behandlung von Patienten herangezogen werden können, sei allerdings noch nicht absehbar.

Originalveröffentlichung:

Sonja M. Wojcik, Shutaro Katsurabayashi, Isabelle Guillemin, Eckhard Friauf, Christian Rosenmund, Nils Brose, and Jeong-Seop Rhee
A Shared Vesicular Carrier Allows Synaptic Corelease of GABA and Glycine.
Neuron 50, 575-587 (2006)

Weitere Informationen:

Dr. Sonja M. Wojcik
Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin, Göttingen
Tel.: +49 551 3899-722
Fax: +49 551 3899-715
E-Mail: wojcik@em.mpg.de

Dr. Jeong-Seop Rhee
Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin, Göttingen
Tel.: +49 551 3899-694
Fax: +49 551 3899-715
E-Mail: rhee@em.mpg.de