Ein Weg zu vielen Wirkstoffen

Chemiker erleichtern die Suche nach neuen Arzneimitteln. Die Verwandtschaft mit Naturstoffen erhöht die Chancen, unter den Testverbindungen biologisch wirksame Stoffe zu finden. Und zwar für sehr unterschiedliche Prozesse. Die Forscher testeten eine Sammlung von 50 Molekülen, in denen sich ein ganz bestimmtes Bauelement vieler Naturstoffe findet.

Quelle: Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie Abb.: Eine Reaktion mit biologischer Wirkung: Nach einer einzigen Kochvorschrift stellen Dortmunder Max-Planck-Forscher aus dem Molekül oben links eine ganze Sammlung von Molekülen her - darunter einige biologisch aktive. Die beiden Verbindungen unten greifen zum Beispiel in die Zellteilung ein. Bild: Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie
Quelle: Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie
Abb.: Eine Reaktion mit biologischer Wirkung: Nach einer einzigen Kochvorschrift stellen Dortmunder Max-Planck-Forscher aus dem Molekül oben links eine ganze Sammlung von Molekülen her – darunter einige biologisch aktive. Die beiden Verbindungen unten greifen zum Beispiel in die Zellteilung ein. Bild: Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie

(mpg/ehj) – Neue Medikamente zu suchen, ist vor allem mühselig: Unzählige Substanzen müssen Pharmaforscher durch biochemische Testbatterien schicken, um ein paar mögliche Wirkstoffe zu finden. Wissenschaftler unter anderem von mehreren Max-Planck-Instituten haben nun ein Schema entwickelt, um die Suche zu vereinfachen. Zunächst grenzen sie die Zahl der Testsubstanzen ein: Sie prüfen nur chemische Verbindungen, in denen sich chemische Bauelemente aus natürlichen Substanzen finden.

Die Verwandtschaft mit Naturstoffen erhöht nämlich die Chancen, unter den Testverbindungen biologisch wirksame Stoffe zu finden. Und zwar für sehr unterschiedliche Prozesse. Die Forscher testeten eine Sammlung von 50 Molekülen, in denen sich ein ganz bestimmtes Bauelement vieler Naturstoffe findet. Unter anderem greifen acht der Testverbindungen in den Zellzyklus des Vesikularen Stomatitis Virus ein. Manche davon könnten sich also als antivirale Wirkstoffe eignen. Die Suche nach den Wirkstoffkandidaten haben die Forscher zudem erleichtert, weil sie die Verbindungen alle nach derselben Kochvorschrift hergestellt haben.

Große Bibliotheken versammeln in ihren Beständen Hunderttausende, manche sogar mehrere Millionen Bücher – die nichts weiter sind als unterschiedliche Kombinationen der gut Hunderttausend Wörter, die sich im Duden finden. Ganz ähnlich baut sich auch ein Bibliothek chemischer Verbindungen auf: Chemiker kombinieren eine mehr oder weniger große Zahl ihrer Bausteine in allen erdenklichen Variationen. Heraus kommt eine Sammlung von Molekülen, in denen sich einzelne Strukturelemente immer wieder finden, wenn auch in jeweils anderer Kombination. Ganz so wie manche Wörter auch in jedem Buch vorkommen, aber immer in anderen Sätzen.

Forscher der Max-Planck-Institute für molekulare Physiologie in Dortmund, für Biochemie in Martinsried und für Molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden sowie von der Universität Dortmund haben nun eine chemische Fachbibliothek für medizinische Wirkstoffe angelegt. Deren 50 Exemplare enthalten alle einen speziellen Baustein – ein bestimmtes ungesättigtes Lakton. Dieser Baustein taucht in vielen Molekülen auf, die an ganz unterschiedlichen biologischen Prozessen mitwirken. Die Dortmunder Chemiker haben um diesen Baustein herum jedoch Moleküle gebaut, die so in der Natur nicht vorkommen.

In dieser Sammlung von Substanzen könnten sich viele biologisch wirksame Moleküle finden, vermuteten die Wissenschaftler. Und sie hatten recht: Acht der Lakton-Verbindungen beeinträchtigten den Zellzyklus des Vesikularen Stomatitis Virus (VSV). Indem sie ihm entweder den Zutritt zu seinen Wirtszellen erschwerten oder an anderer Stelle seine Vermehrung bremsten, schwächten sie seine Infektiosität herab. Andere Substanzen aus der Lakton-Bibliothek griffen in die Zellteilung von Säugetierzellen ein. Die Zellen konnten dann das Fasergerüst nicht wie gewohnt aufbauen, an dem sie die Chromosomen in zwei Sätze trennen.

„Offensichtlich erhöht ein charakteristischer Baustein aus natürlichen Substanzen die Wahrscheinlichkeit, dass auch künstliche Verbindungen eher biologisch aktiv sind“, sagt Herbert Waldmann, Direktor am Dortmunder Max-Planck-Institut und Leiter der Arbeiten: „Im Laufe der Evolution haben solche Bausteine ihre Wirkung schon bewiesen.“ Dass sie auch in neuen Kombinationen einen biologischen Effekt haben, sei nicht verwunderlich, kommentiert Karl-Heinz Altmann, Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule, in einem begleitenden Artikel in Chemistry & Biology: Die Natur arbeite generell nur mit einer überschaubaren Zahl kleiner Moleküle. Das heißt: Was in verschiedenen Lebewesen bereits an mehreren Stellen wirkt, hat vielleicht auch noch woanders einen Effekt.

„Unter den unendlich vielen chemischen Verbindungen hat die Natur bereits Sammlungen von Substanzen identifiziert, die biologisch aktiv sind: Wenn wir diese Sammlungen nach möglichen medizinischen Wirkstoffen durchsuchen, können wir künftig leichter neue Medikamente entwickeln“, sagt Waldmann. So könnten einige der Verbindungen aus der Dortmunder Lakton-Bibliothek als Vorlagen taugen, um antivirale Wirkstoffe zu entwickeln – dass einige die Infektiosität des VSV mildern gibt dafür zumindest ein erstes Indiz.

Die Zahl der Testverbindungen für medizinische Wirkstoffe einzugrenzen, ist aber nur ein Trick des Forscherteams, um die Suche nach neuen Medikamenten zu erleichtern. Sie haben auch ein einfaches Verfahren entwickelt, die einzelnen Exemplare ihrer Substanzbibliothek herzustellen. Das ist gewöhnlich beliebig kompliziert sein: Oft müssen Chemiker für jede Verbindung einer solchen Sammlung eigene Herstellungswege erkunden. „Wir haben eine Synthese entworfen, die uns alle 50 Verbindungen der Bibliothek zugänglich macht“, sagt Waldmann. So wie auch die meisten Bücher nach demselben Verfahren gedruckt werden.

Zentrales Element der Synthese ist ein Katalysator, der den reagierenden Molekülen die richtige räumliche Orientierung gibt. Damit der Lakton-Baustein in den Produkten nämlich den natürlichen Vorbildern gleicht, darf er nur in einer von zwei möglichen spiegelbildlichen Formen entstehen. Solche Moleküle nennen Chemiker chiral, abgeleitet vom griechischen Wort für Hand. Solche Moleküle lassen sich wie die linke und rechte Hand mit ihrem Spiegelbild nicht in exakt dieselbe räumliche Lage drehen. Biologisch wirken kann nur die richtige chirale Form.

Doch den Katalysator zu finden, der alle Verbindungen in ihrer Sammlung ausschließlich in der richtigen chiralen Form liefert, war nur ein erster Schritt. Für den großtechnischen Einsatz ist die Synthese auch dann meistens noch nicht geeignet. Denn im Labor findet eine solche Reaktion üblicherweise in einer Flüssigkeit statt, in der alle Zutraten gelöst sind. Daraus das gewünschte Produkt zu fischen, ist beliebig kompliziert. Noch schwieriger wird es, wenn Chemiker dieses Produkt weiterverarbeiten müssen. „Da ist es praktisch, wenn wir eine der Ausgangssubstanzen auf einer festen Oberfläche fixieren können“, sagt Torben Leßmann, der die Synthese zusammen mit anderen Wissenschaftlern in Herbert Waldmanns Forscherteam entwickelte.

Also heften die Forscher einen der Ausgangsstoffe chemisch auf Kunststoffkügelchen fest. Rund um diesen Ausgangsstoff bauen sie dann ihre gewünschte Verbindung auf, indem sie bei nacheinander minus 30 Grad kalte Lösungen mit den notwendigen Zutaten über die Kunststoffkügelchen füllen. Jetzt müssen sie aber vorsichtig sein: Die Temperatur darf zwei Stunden lang nicht über Null Grad klettern. Gegebenfalls müssen sie mit Eiswasser kühlen. Hat alles gut geklappt, spalten sie das Produkt von der Oberfläche ab, waschen und trocknen es – und fertig ist die Verbindung.

„Das hört sich einfach an“, sagt Leßmann. „Doch kaum ein Katalysator arbeitet an einer festen Oberfläche genauso wie in einer Lösung.“ Um ihre Laktonverbindungen an einer festen Oberfläche herzustellen, haben die Dortmunder Wissenschaftler einige Katalysatoren ausprobiert. Solche, die Kupfer, Chrom oder Titan enthalten und sich zudem in den Anhängseln der Metallatome unterscheiden. Sie haben mal mehr und mal weniger Katalysator verwendet, verschiedene Lösungsmittel getestet, die Temperatur variiert. So haben sie schließlich das eine Rezept entworfen, nach dem sie ihre ganze Sammlung der naturverwandten Laktone einfach und zuverlässig herstellen können. „Wir haben die Fähigkeit des Chemikers in einer Biologie orientierten Synthese eingesetzt, an biologisch relevanten Stellen also, zu denen wir uns von der Natur leiten lassen haben“, sagt Waldmann.

Weitere Informationen:

Prof. Herbert Waldmann
Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie, Dortmund
Tel.: +49 231 133 – 2401
Fax: + 49 231 133 – 2499
E-Mail: herbert.waldmann@mpi-dortmund.mpg.de


Originalveröffentlichung:

Torben Leßmann, Michele G. Leuenberger, Sascha Menninger, Meritxell Lopez-Canet, Oliver Müller, Stefan Hümmer, Jenny Bormann, Kerstin Korn, Eugenio Fava, Marino Zerial, Thomas U. Mayer und Herbert Waldmann
Natural Poduct-Derived Modulators of Cell Cycle Progression and Viral Entry by ENantioselective Oxa Diels-Alder Reactions on the Solid Phase
Chemistry & Biology (April 2007)